Gewaltverzicht

Gewaltverzicht
Ge|wạlt|ver|zicht 〈m. 1; unz.〉 ausdrückl. Verzicht auf Anwendung von Gewalt

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Ge|wạlt|ver|zicht, der:
Verzicht auf den Einsatz militärischer Mittel in zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen.

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Gewaltverzicht,
 
die völkerrechtlich verbindliche Erklärung eines Staates gegenüber einem oder mehreren anderen Staaten, Streitigkeiten untereinander nicht mit der Anwendung oder Androhung von militärischer Gewalt zu lösen; der Gewaltverzicht erkennt das Recht eines jeden Staates auf territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit an. Der Beitritt eines Landes zu internationalen Organisationen, die ihren Mitgliedern ein Gewaltverbot auferlegen, impliziert den Gewaltverzicht, ebenso der Beitritt zu einem internationalen Vertragswerk, dessen Bestimmungen auf ein Gewaltverbot zielen.
 
Geschichtliche Aspekte:
 
Seit den Haager Friedenskonferenzen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist die Frage des Gewaltverzichts ein immer wiederkehrendes Thema der internationalen Diplomatie, das v. a. durch die beiden Weltkriege und die Entwicklung von Kernwaffen mit großer Vernichtungskraft nach dem Zweiten Weltkrieg immer neue Aktualität erhielt. Mit der Satzung des Völkerbundes (1919) und den Bestimmungen des Briand-Kellogg-Paktes (1928) wurden Gewaltverbote und in ihrer Konsequenz Gewaltverzichtserklärungen völkerrechtlich wirksam. Die Locarnoverträge (1925) waren bestimmt vom Willen zum Gewaltverzicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg verpflichtete die Charta der Vereinten Nationen (1945) die Mitglieder dieser Organisation zur friedlichen Beilegung internationaler Konflikte und zum Verzicht auf jede Gewaltmaßnahme gegen die Unabhängigkeit und Integrität anderer Staaten. Das in Art. 2 Ziffer 4 der UN-Charta niedergelegte Gewaltverbot gehört zum allgemeinen, zwingenden Völkerrecht und gilt daher auch für Nichtmitglieder der UNO. Vom Gewaltverbot unberührt bleiben lediglich diejenigen Maßnahmen, die in Ausübung des auch von der UN-Charta bekräftigten »naturgegebenen Rechts zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung« ergriffen werden (Art. 51), sowie die kollektiven Zwangsmaßnahmen, die die Vereinten Nationen im Falle eines Friedensbruchs oder einer Friedensbedrohung durchführen. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass der UN-Sicherheitsrat feststellt, dass eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt. Es liegt dann im Ermessen des Sicherheitsrats, ob er auf die Friedensbedrohung oder den Friedensbruch mit gewaltlosen oder gewaltsamen Mitteln reagiert. Die Mitgliedstaaten der »Organization of American States« (OAS) und der »Organization of African Unity« (OAU) sind durch die Satzung ihrer Organisation zur friedlichen Beilegung von Spannungen aufgefordert. Deutschland hat den Grundsatz des Gewaltverzichts in das GG aufgenommen (Art. 26).
 
Abgesehen von Fällen direkter Nichtbeachtung des Gewaltverzichts in eingegangenen Verträgen, gerät der Gewaltverzicht in der politischen Realität oft in Gegensatz zum Recht eines jeden Staates auf Wahrung seiner Integrität und der Rechtmäßigkeit seiner Interessen. Unter Hinweis auf diese Rechtslage umgehen zahlreiche Staaten oft das Gewaltverzichtsgebot, erklären es für materiell nicht zutreffend und wenden in Konsequenz dieser Argumentation Gewalt an. Die politische Problematik liegt z. B. für die UNO oder die OAU in der aktuell und konkret schwer festzustellenden Grenze zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg (Krieg).
 
Unter dem Eindruck politisch-militärischer Bedrohung entstanden mit der NATO (1949) und dem Warschauer Pakt (1955) politisch-ideologisch entgegengesetzte Bündnissysteme, die sich jedoch trotz scharfer Kontroversen (Ost-West-Konflikt) zum Gewaltverbot der UNO bekannten (die Art. 1 und 2 des Gründungsvertrags der NATO und des Warschauer Paktes). In Übereinstimmung mit dieser Grundhaltung bekannten sich die Bundesrepublik Deutschland in der »Londoner Akte« (1954) und die DDR im »Vertrag über die Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR« (1955) zu den Grundsätzen der UN-Charta.
 
Im Zeichen der Entspannungspolitik erhielt der Gewaltverzicht seit der Wende von den 50er- zu den 60er-Jahren eine erhöhte Bedeutung. Nachdem sich die Regierung der Bundesrepublik Deutschland unter L. Erhard in einer »Friedensnote« (1966) erneut zum Gewaltverzicht bekannt hatte, wurde dieser unter der Kanzlerschaft W. Brandts mit Auswirkung auf ganz Europa zu einem zentralen Instrument der neuen Deutschland- und Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland, so u. a. im Moskauer Vertrag mit der UdSSR, im Warschauer Vertrag mit Polen (beide 1970), im Grundvertrag (1972) sowie im Vertrag der Bundesrepublik Deutschland mit der Tschechoslowakei (1973). Die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (1975) enthält eine umfassende Gewaltverzichtserklärung. Immer wieder begleitet von Rückschlägen in der Entspannungspolitik v. a. um die Wende zu den 80er-Jahren, mündete die Frage des Gewaltverzichts in den größeren Zusammenhang der vertrauensbildenden Maßnahmen bei der Entschärfung des Ost-West-Konflikts. Der Gewaltverzicht ist so auch eine der Grundlagen des Zwei-plus-Vier-Vertrages von 1990 über die äußeren Aspekte der deutschen Einheit.
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Konflikt: Friedliche Konfliktbearbeitung und Kriegsverhütung
 

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Ge|wạlt|ver|zicht, der: Verzicht auf den Einsatz militärischer Mittel in zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen.

Universal-Lexikon. 2012.

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